Teil 1 - Medizintechnikbranche im Wandel: Chancen und Herausforderungen rund um die MDR
TEIL 1/10
Unser ausführlicher Bericht zu den Änderungen durch die EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) gliedert sich in 10 Abschnitte. Diese werden wir hier fortlaufend für Sie freischalten.
Die Medizintechnikindustrie muss sich neu erfinden. Mit dem Inkrafttreten der Medical Device Regulation sehen sich Unternehmen mit massiven regulatorischen Anforderungen konfrontiert. In der vom Mittelstand geprägten Branche herrscht entsprechend große Verunsicherung. Die NEMIUS MedTech NEWS erläutern, worauf sich Unternehmen einstellen müssen und welche strategischen Entscheidungen jetzt zu treffen sind.
2016 hat das Europäische Parlament eine umfassende Überarbeitung des Regelwerks für Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika beschlossen. Der entscheidende Auslöser dafür war der sogenannte Brustimplantat-Skandal, bei dem ein französisches Unternehmen Implantate mit billigem, unzulässigem Industriesilikon vertrieben hatte. Als es daraufhin zu einem Reißen der Implantate und einem Austreten des Silikongels kam, mussten bei Tausenden von Frauen die Implantate wieder entfernt werden.
Hinzu kam, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen ohnehin nicht mit dem über die vergangenen zwanzig Jahre erfolgten Einzug von Digital Health Anwendungen Schritt gehalten hatten und eine Überarbeitung mehr als fällig war. Die Politik war daher mehrfach gefordert. Dies führte 2017 zur Ablösung der ohnehin in die Jahre gekommenen Richtlinien 93/42/EWG (MDD) für Medizinprodukte sowie 90/385/EWG für aktive implantierbare medizinische Geräte (AIMDD) Medical Device Directive (MDD) durch die Medical Device Regulation (MDR) für Medizinprodukte sowie der IVDR für In-vitro-Diagnostika.
Einheitliche Rechtsgrundlage
Noch zu Beginn des Jahres waren alle Beteiligten davon ausgegangen, dass die MDR ab dem 26. Mai 2020 und die IVDR ab dem 26. Mai 2022 in sämtlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten sollte. Durch Corona wurde dieser Zeitplan außer Kraft gesetzt. Um den besonderen Herausforderungen für die Hersteller, die sich im Zusammenhang mit der Pandemie ergeben, Rechnung zu tragen, hat das EU-Parlament am 17. April 2020 der Verschiebung der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) zugestimmt. Der Geltungsbeginn der MDR verschiebt sich damit auf den 26. Mai 2021. Die Übergangsfristen bleiben jedoch unberührt und enden wie ursprünglich geplant am 26. Mai 2024.
Beide Verordnungen bieten ab 2021 erstmalig eine verlässliche Rechtsgrundlage als direkt anwendbares EU-Recht. Sie sehen unter anderem unangemeldete Kontrollen bei den Herstellern vor, ebenso wie bei deren kritischen Lieferanten. Hinzu kommen zusätzliche Prüfverfahren und eine bessere Rückverfolgbarkeit von risikobehafteten Produkten.
Die Vorgängerin der MDR, die Medical Device Directive (MDD) stammte noch aus dem Jahr 1993. Angesichts der rasanten Entwicklung, die die Medizintechnik in den vergangenen 25 Jahren genommen hat, erschien eine Orientierung an dieser wie auch den anderen veralteten Richtlinien in diesem Bereich nicht mehr zeitgemäß.
Safety first!
Vom Standpunkt der Patientensicherheit aus betrachtet, sind die neuen EU-Verordnungen definitiv ein Schritt in die richtige Richtung. Insbesondere bei Hochrisikoprodukten wie beispielsweise Implantaten sollen so Schwachstellen im bisherigen System beseitigt und die europäische Zertifizierung von Medizinprodukten auf einen zeitgemäßen höheren Standard gehoben werden. Ein Blick in die USA zeigt, dass hier Medizinprodukte zum Wohle der Patienten seit vielen Jahren strengen Prüfungen unterzogen werden. Mit anderen Worten: Diese Entwicklung war in Europa längst überfällig.
In Deutschland ist die Medizintechnikbranche ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Sie umfasst ca. 1.350 Unternehmen (mit mehr als 20 Mitarbeitern) bei einem Gesamtumsatz von 33,4 Mrd. Euro 2019 (Quelle: Branchenbericht BVMed). Betrachtet man die Verteilung der deutschen Medizintechnikhersteller nach der Größe ihrer Betriebe, zeigt sich das Bild einer vom Mittelstand geprägten Industrie: 95 Prozent der Unternehmen haben weniger als 250 Mitarbeiter. Typisch für die Branche sind zudem starke regionale Cluster, wie beispielsweise im schwäbischen Tuttlingen und in Oberfranken.
Versäumnisse in Politik und Industrie
Obwohl die ersten Pläne für die MDR bereits seit mehreren Jahren auf EU-Ebene diskutiert wurden, versäumte es auch die deutsche Politik, rechtzeitig entsprechende Weichenstellungen auf nationaler Ebene zu treffen. Von den 58 Benannten Stellen, die in der Vergangenheit für die Zertifizierung von Medizinprodukten zuständig waren, waren Anfang 2020 erst zwölf nach neuem Recht offiziell benannt.
Allein die aufgrund der Neuregelung erforderlichen Konformitätsbewertungsverfahren erzeugen jedoch einen immensen Bearbeitungsaufwand, der sich hier in einem wirtschaftlich angemessenen Zeitraum nicht auffangen lässt.
Auch viele Hersteller betrachteten die Brüsseler Bestrebungen lange Zeit so, als ob es sie nichts anginge und hofften wohl darauf, dass der Kelch an ihnen vorübergehen möge. So verstrich wertvolle Zeit, die man gut für eine schrittweise Anpassung an die neuen regulativen Anforderungen (s. Schaubild Risikoklassen [Link]) hätte nutzen können.
Strategische Entscheidungen sind gefragt
Auch wenn der Geltungsbeginn der MDR aufgrund der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben wurde, müssen die Unternehmen wichtige strategische Entscheidungen treffen und ihr Portfolio einer kritischen Prüfung unterziehen. Dabei ist die Frage zu beantworten, bei welchen Produkten sich der regulatorische Aufwand in Zukunft noch lohnt. Insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) stehen vor der Herausforderung, die mit den neuen Verordnungen verbundenen Kosten zu stemmen. Gleichzeitig stellen die mit der Zertifizierung verbundenen zeitlichen Fristen eine zusätzliche Hürde dar, da hier weder die entsprechenden Prozesse implementiert, noch die personellen Kapazitäten vorhanden sind. Laut Aussage des Branchenverbandes BVMed hat sich der dokumentarische Aufwand für die Hersteller verzehnfacht.
Von deutscher Seite hatte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mehrfach für eine Fristverlängerung eingesetzt. Im Dezember 2019 hat das Europäische Parlament zumindest die Übergangsfristen für jene Medizinprodukte der bisherigen Risikoklasse I bis zum Jahr 2024 verlängert, die nach der neuen Verordnung in die höhere Klasse Ir eingestuft werden. Diese Klasse wurde eigens für wiederverwendbare chirurgische Instrumente geschaffen.
Dennoch wird es bei vielen Unternehmen zu einer grundlegenden Bereinigung des Produktportfolios kommen. Aber nicht allen Unternehmen wird es gelingen, die regulatorischen Hürden und die erhöhten Finanzierungsanforderungen rechtzeitig zu erfüllen. Denn eine Vielzahl an Aufgaben ist in relativ kurzer Zeit zu bewältigen – von der Suche nach bis zur Beauftragung von Prüflaboren und Benannten Stellen, die derzeit überhaupt noch Kapazitäten haben, über die Erstellung von Clinical Evaluation Reports und die Umsetzung neuer Prüfnormen bis zum Aufsetzen eines neuen Risikomanagements. Ein Konzentrationsprozess im Markt ist unausweichlich: Branchenkenner gehen davon aus, dass mindestens zehn Prozent der Firmen und 30 Prozent der Produkte vom Markt verschwinden werden.
Auch wenn die Aufgaben seit 2017 bekannt sind, haben viele Unternehmer lange nicht reagiert. Jetzt ist die entscheidende Frage, ob sie intern über ausreichende Ressourcen verfügen, die Umstellung noch rechtzeitig zu schultern und ihre Produkte zu zertifizieren. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen geraten hier häufig an ihre Grenzen, da es ihnen an regulatorischem Know-how und geeigneten Fachpersonal mangelt. Um den Überblick zu behalten, sind diese in besonderem Maße auf externe Unterstützung angewiesen.
Aber auch größere Unternehmen mit einem umfangreicheren Portfolio sind gefordert: sie müssen nach Ende der nun vierjährigen Übergangszeit bis spätestens zum 26. Mai 2021 die technischen Dokumentationen aller Produkte den neuen regulatorischen Erfordernissen angepasst haben. Jedes Unternehmen sollte sich überlegen, welche Produkte für den Geschäftserfolg wesentlich sind und welche nicht. Als Alternative zu einer Portfoliobereinigung kann auch ein strategisches Zulassungsmanagement sinnvoll sein, bei dem verschiedene Produkte oder Produktgruppen in einem oder mehreren Clustern zusammengeführt und diese dann zur Prüfung bei der Benannten Stelle eingereicht werden. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass im Falle eines negativen Bescheids sämtliche Produkte, die unter diesem Cluster zusammengefasst wurden, davon betroffen sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten der zur Implementierung der MDR erforderlichen ausführenden Rechtsakte, Normen und Leitfäden immer noch nicht vorliegen. Sobald diese Harmonisierung mit der MDR durch die EU-Behörden erfolgt ist, werden die Unternehmen ihre eigenen Dokumente nochmals in die Hand nehmen müssen, um sie dem aktuellen Stand anzupassen. Das bedeutet nicht nur zusätzlichen Arbeitsaufwand, sondern auch mangelnde Planungssicherheit für die Unternehmen.
In Teil 2 erwartet Sie: Wenn die Umsetzung der MDR alleine nicht geht. - Was kann externe Beratung leisten?